Der tragische Tod der vierköpfigen Familie Böcek in einem Istanbuler Hotel beschäftigt weiter die türkische Öffentlichkeit und die Justiz. Neue Informationen aus den Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft werfen ein noch deutlicheres Licht auf mögliche Versäumnisse, unzureichende Kontrollen und widersprüchliche Aussagen der Beteiligten. Die Familie – zwei kleine Kinder, ihre Mutter und später auch der Vater – war Mitte November während eines Türkei-Urlaubs verstorben. Im Zentrum steht der Verdacht einer chemischen Vergiftung, ausgelöst durch eine offenbar unsachgemäß durchgeführte Schädlingsbekämpfung im Hotel.
Die Ermittlungen richten sich gegen insgesamt elf Personen, darunter Hotelbesitzer, Mitarbeiter des Hauses sowie Verantwortliche eines privaten Schädlingsbekämpfungsunternehmens. Während zunächst acht Verdächtige in Untersuchungshaft genommen worden waren, wurden zwei weitere – der Hotelbesitzer und ein Mitarbeiter – vor wenigen Tagen unter Auflagen freigelassen. Nun hat die Staatsanwaltschaft auch für sie einen erneuten Haftbefehl erwirkt. In den Unterlagen finden sich wichtige Details, die ein zunehmend komplexes Bild der Ereignisse zeichnen.
Besonders brisant ist die Information, dass die eingesetzte Schädlingsbekämpfungsfirma nach Angaben der Gesundheitsbehörde ohne gültige Lizenz tätig gewesen sein soll. Auch der Mitarbeiter, der das Mittel in der fraglichen Nacht in einem Zimmer des Hotels versprühte, verfügte demnach über keine erforderliche Zertifizierung. Diese Feststellung wird als zentraler Punkt in der Argumentation der Staatsanwaltschaft gewertet, die betont, dass unsachgemäße chemische Anwendungen erhebliche Gesundheitsgefahren nach sich ziehen können.
Die Staatsanwaltschaft schildert zudem, dass die Familie Böcek im Zimmer 201 untergebracht war – einem Raum ohne eigenes Belüftungssystem. Das Schädlingsbekämpfungsmittel wurde zwei Tage vor den ersten Beschwerden der Familie im darunterliegenden Zimmer 101 eingesetzt. Diese räumliche Nähe und die fehlende Lüftungsmöglichkeit im Zimmer 201 werden als maßgebliche Faktoren für eine mögliche Exposition betrachtet.
Auffällig sind auch die Aufnahmen der Sicherheitskameras, die laut den Ermittlungen zeigen, wie die Familie in der Nacht der Verlegung ins Krankenhaus im Hotel eingeschlossen war. Als der Zustand der Eltern und der beiden Kinder sich drastisch verschlechterte, soll die Hoteltür verschlossen gewesen sein. Der Vater, Servet Böcek, und weitere Personen sollen versucht haben, die gläserne Tür aufzubrechen, um den Rettungskräften Zugang zu verschaffen. Diese Szenen, in den Ermittlungsunterlagen beschrieben, verdeutlichen die dramatischen Umstände jener Nacht.
Der Rezeptionist, der zum Zeitpunkt des Vorfalls im Dienst war, sorgte mit widersprüchlichen Aussagen für weitere Unsicherheiten. In seiner ersten Aussage soll er angegeben haben, den starken Geruch im Hotel bemerkt und daraufhin das Gebäude verlassen zu haben – nachdem er zuvor die Eingangstür verschloss. In einer späteren Vernehmung verschwieg er hingegen diesen Hinweis auf den Geruch. Zudem wurde festgestellt, dass ein weiterer Mitarbeiter am Tag des Vorfalls erklärte, sich aufgrund von Unwohlsein krankgemeldet zu haben. Später gab er jedoch zu, dass diese Aussage nicht stimme und er lediglich einen Freund habe besuchen wollen.
Die Staatsanwaltschaft wertet diese Widersprüche als Hinweise darauf, dass die Mitarbeiter ihre Aufmerksamkeitspflichten verletzt haben könnten. Besonders die Tatsache, dass die Hotelangestellten offenbar nicht konsequent auf mögliche Gefahren durch die chemische Behandlung reagierten, steht im Mittelpunkt der Kritik.
Auch die Aussagen der Verantwortlichen der Schädlingsbekämpfungsfirma geben Anlass zu weiteren Ermittlungen. Der Firmeninhaber erklärte, sein Unternehmen sei lediglich in der Anfangsphase kontrolliert worden und seit Jahren keiner behördlichen Überprüfung mehr unterzogen worden. Er betonte, er habe persönlich keine Anwendung durchgeführt und verlange von seinen Mitarbeitern eigentlich entsprechende Qualifikationsnachweise. Der Mitarbeiter, der die betroffene Anwendung durchführte, schilderte, er habe die Türen und Ritzen sorgfältig abgeklebt, um ein Austreten des Mittels zu verhindern. Dennoch ist unklar, welche Stoffe verwendet wurden und in welcher Konzentration sie eingesetzt wurden.
Das Institut für Gerichtsmedizin veröffentlichte am 17. November erste Erkenntnisse. Demnach konnten in den Proben der Familie sowie zweier weiterer Gäste keine toxischen Substanzen sicher nachgewiesen werden. Dennoch deuten der Ablauf der Ereignisse und die zeitgleiche Erkrankung anderer Hotelgäste auf eine hohe Wahrscheinlichkeit einer chemischen Belastung hin. Eine Lebensmittelvergiftung wird nur als weniger wahrscheinliche Möglichkeit betrachtet. Die endgültigen Laborergebnisse sollen am 28. November vorgelegt werden und werden mit großer Spannung erwartet.
Die Familie Böcek, die aus Deutschland für einen einwöchigen Urlaub angereist war, suchte bereits am 12. November eine Klinik auf, nachdem sich bei allen Familienmitgliedern Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen eingestellt hatten. Nach einer kurzen Behandlung wurden sie jedoch entlassen. Einen Tag später verschlechterte sich ihr Zustand dramatisch. Um 02:20 Uhr wurde erneut ein Rettungswagen alarmiert – diesmal erfolgte die Einweisung ins Krankenhaus, in dem die Mutter und die beiden Kinder verstarben. Der Vater erlag drei Tage später ebenfalls den Folgen.
Der Vorfall hat eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Die Türkische Ärztekammer bezeichnete die Geschehnisse als „sichtbaren Ausdruck einer lange bestehenden Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der unzureichenden Kontrollen“. Insbesondere im Tourismussektor seien Lücken in der Überwachung von chemischen Anschaffungen und Anwendungen offenkundig geworden.
Auch politisch wird der Fall aufmerksam verfolgt. Gesundheitsminister Kemal Memişoğlu erklärte öffentlich, beide Krankenhäuser – sowohl das zuerst aufgesuchte als auch das später anfahrende – gehörten zu den renommiertesten Einrichtungen des Landes und hätten nach bestem Wissen gehandelt. Dennoch wurde eine interne Untersuchung eingeleitet, um mögliche Versäumnisse im medizinischen Ablauf auszuschließen.
Bis zur Veröffentlichung des abschließenden Berichts des Gerichtsmedizinischen Instituts bleibt die Frage nach der genauen Ursache weiter offen. Für die Angehörigen der Familie Böcek, die die Leichname inzwischen entgegengenommen haben, bleibt ein tiefer Schmerz und die Hoffnung auf vollständige Aufklärung. Der Fall hat erneut gezeigt, wie essenziell funktionierende Kontrollmechanismen in Hotels und bei Dienstleistern sind – und welche Folgen entstehen können, wenn sie versagen.











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